Er war der Mann der ersten Stunde am damals neuen Institut Wohnen und Entwerfen (IWE) der Universität Stuttgart. Jetzt, 21 Jahre später, nahm Prof. Thomas Jocher seinen altersbedingten Abschied von Forschung und Lehre zum Anlass, seinen Gästen, insgesamt rund vierhundert Studierenden sowie Kolleginnen und Kollegen von der Fakultät Architektur und Stadtplanung, in komprimierter Form das Thema Wohnungsbau zu präsentieren.
Die Choreographie des Abends war ein heiteres und dennoch lehrreiches Drama in drei Akten. Mit Musik untermalt, garniert mit politischen Botschaften des Hauptakteurs Jocher im zweiten Akt, gipfelte der Abend in einer Feier hoch oben in den Räumlichkeiten des Instituts in der Keplerstraße 11. Der Schlussakkord ist gleichwohl noch nicht erklungen, da Jocher dem Institut und den Studierenden über sein Rentenalter hinaus zumindest im Wintersemester noch für das Pflichtfach Gebäudelehre erhalten bleibt.
Urbanes Wohnen aus internationaler Sicht
Erster Akt: Entspannte Lounge-Atmosphäre mit Ledergarnitur, Couchtisch und Stuttgarter Fernsehturm, dem weithin sichtbaren Wahrzeichen der Landeshauptstadt und einem seinerzeit avantgardistischen Meilenstein der Architektur, quasi als charakteristisches Raumobjekt und Ausrufezeichen für die anstehenden Themen. Denn im Hörsaal der Keplerstraße 17 diskutierte Thomas Jocher in lockerer Runde nacheinander mit insgesamt acht internationalen Architektinnen und Architekten über urbanes Wohnen, veranschaulicht an exemplarischen Wohnungsbauprojekten sowie Pionierprojekten für neue Konzepte im Städtebau.
Orte, an denen Menschen zusammenfinden
Die meisten der Protagonisten des Abends beschäftigen sich mit großen Geschosswohnungsbauten, so auch Herwig Spiegl aus Wien. In launiger Manier hob er ab auf das wichtige Zusammenspiel von Privatsphäre und Zusammenleben – angefangen mit dem Selbstversuch, sich als Student im teuren Wien ein großes Loft mit weiteren drei Studenten zu teilen und den einzigen Raum dieser Wohngemeinschaft mit je einem Zelt für die eigene Intimsphäre zu unterteilen, hin zu den Häusern der Gründerzeit. „Bei der Bassena im Stiegenhaus haben sich alle getroffen und miteinander getratscht“, erinnerte Spiegl und übersetzte dies sogleich für Nichtösterreicher als „Wasserentnahmestelle im Treppenhaus“. Schließlich müsse man nicht nur wissen, mit wem man in einem Gebäude wohne, sondern auch, wer sich mit wem wie verstehe oder nicht. Solche Treffpunkte sind für den Wiener wichtiger Bestandteil seiner Entwürfe. „Es sind nicht nur die schönen Grundrisse, sondern es braucht die Orte, wo die Menschen sich zusammenfinden“, lautete sein Fazit. Für dieses Credo „nicht mehr Zweispänner, sondern Dreißigspänner“ sei es relativ schwierig, in Deutschland Anhänger zu finden. Das gleiche Projekt, das in Wien erfolgreich umgesetzt werden konnte, sei in Hannover gefloppt.
Deutschland hat Nachholbedarf bei großen Gemeinschaftsbauprojekten
Krasse Gegenbeispiele im großen Stil stellte der Asiate Tongyu Sun als letzter Gesprächspartner vor. Der Architekt und Stadtplaner lehrt seit einigen Jahren als Professor für Stadtplanung an der renommierten Tongji Universität in Shanghai (China), kennt aber auch Stuttgart. Am IWE hatte Sun vor zehn Jahren ein Jahr als Gastprofessor verbracht. Unter seinen heutigen Auftragsarbeiten, allesamt von gewaltiger Dimension, sind auch solche Megaprojekte, die er selbst als Ghettoisierung kritisiert. Es sind dies sogenannte „Gated Communities“, also abgeriegelte Wohnquartiere für eine wohlhabende Klientel, die für sich leben möchte.
Während es in Berlin mit dem Spreefeld Mitte ein großes Projekt gibt, das die an diesem Abend propagierten Ziele auch in Deutschland umsetze, suche man in Stuttgart noch nach Möglichkeiten für große baugemeinschaftliche Projekte mit 40 bis 50 Wohneinheiten. Einzig im Olga-Areal im Stuttgarter Westen gebe es nun erste Ansätze für ein solches Projekt.
Anforderungen an städtisches Wohnen
Den zweiten Akt gestaltete Jocher als Vorlesung. Diese war nicht weniger als ein Ritt durch Grundlagen der Gebäudelehre mit den sich ändernden Anforderungen an städtisches Wohnen, verbunden mit demografischen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Architektur von morgen. Sehr ernst war es Jocher mit seinem Appell an die Politik, Baugesetze endlich länderübergreifend zu vereinbaren. Vehement kritisiert der Bajuware außerdem die seit Jahren explodierenden Bodenpreise als die wahren und ungerechtfertigten Kostentreiber. Bei allen Möglichkeiten der heutigen Architektur liegen ihm bezahlbarer Wohnraum und eine soziale Stadtentwicklung am Herzen.
Entstehungsgeschichte des Instituts
Seit der Gründung des IWE im Zusammenhang mit der Einrichtung einer Stiftungsprofessur durch die Wüstenrot Stiftung im Jahr 1997 bekleidete Jocher die dortige Professur und war Institutsleiter. Nach zehn Jahren übernahm das Land die weitere Finanzierung des deutschlandweit einzigartigen Instituts. Als eines der zentralen Themen, wenn nicht gar als das Hauptthema in Forschung und Lehre galt von Anfang an die Suche nach neuen Formen des Wohnens im Geschosswohnungsbau, also die Frage danach, wie für den dichten städtischen Wohnungsbau qualitätsvolle Angebote entstehen können.
Der Dekan der Fakultät Architektur und Stadtplanung, Prof. Klaus Jan Philipp, lobte das Wirken von Jocher am IWE, das bis heute als Entwurfsinstitution sehr beliebt sei. Wohnbau, Wohnkonzepte seien, so Philipp, „einfach ein Dauerbrenner unter den Kursthemen an unserer Fakultät.“ Jocher selbst habe sich den Jahren nicht merklich verändert. „Er ist direkt, er ist forsch, manchmal grantelnd, aber ohne Umwege seine Meinung sagend.“ Jocher hinterlasse große Fußspuren, denn nicht zuletzt er habe mit seinem Wirken zur Attraktivität der Fakultät beigetragen. Mit über 600 Bachelor- und mehr als 500 Master-Bewerbungen sei die Universität Stuttgart deutschlandweit ganz weit oben.