Das neuartige Förderprogramm „Terra incognita“ wurde im Juli 2019 von der Universität Stuttgart aufgesetzt, um erfolgsversprechende Forschungsfelder der Zukunft zu identifizieren und Pionierforschung zu ermöglichen. Es wird aus Mitteln der im Kontext der Exzellenzcluster eingeworbenen Universitätspauschale finanziert. In der ersten Förderrunde wurden 33 Anträge eingereicht. Der Forschungsrat wählte zehn Teams bzw. Einzelpersonen aus und lud diese ein, ihre Vorhaben zu präsentieren. Sechs Projekte erhalten nun erstmals die Förderung von insgesamt rund 265.000 Euro aus dem neuen Programm.
„Terra incognita“ grenzt sich zu bestehenden Förderangeboten im Bereich der Hochrisiko-Forschung dadurch ab, dass gezielt trans- und interdisziplinäre, völlig neue Forschungsgebiete und Forschungsthemen angestoßen werden sollen. Der Fonds richtet sich an einzelne Forschende oder Forschergruppen aller Karrierestufen der Universität Stuttgart. Die Fördersumme beträgt bis zu 50.000 Euro für einen Förderzeitraum von sechs bis zwölf Monaten. Ansprechpartnerin für Interessierte, die sich für das Förderprogramm bewerben möchten, ist Nicole Bach, Dez. I.
Vielfältige Forschungsbereiche
Die Themenbereiche sind dabei vielfältig. Sie reichen von neuen Materialien in der Architektur bis zur Erforschung optimaler Kommunikation mittels Simulation und Computerlinguistik. Ein Vorhaben beschäftigt sich mit dem Einsatz von Quantencomputern in den Digital Humanities, ein anderes mit dem Einsatz von Quantensensoren zur Messung von Magnetfeldern. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eines Projekts möchten neuartige Gerüstproteine als Antikörperersatz entwickeln. In dem Vorhaben, das Ingenieurwissenschaften und Medizin verbindet, geht es um die Herstellung von gedruckten Mikrooptiken für medizinische Diagnostik.
„Vor der Gefahr, mit wagemutiger Forschung zu scheitern, steht in der Wissenschaft die große Chance, mit Mut und Originalität Grenzen des Wissens zu erweitern“, hatte Prof. Jan Knippers, Prorektor Forschung, den Start des Terra incognita Fonds kommentiert. Prof. Monilola Olayioye, Prorektorin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversity, erklärt: „Ich freue mich darüber, dass unter den erfolgreichen Anträgen auch drei von Nachwuchswissenschaftlerinnen sind und dass die Projekte sehr interdisziplinär aufgestellt sind.“ Sie ermuntert die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Stuttgart dazu, sich mit ihren Forschungsvorhaben für das Programm zu bewerben.
Übersicht der sechs geförderten Projekte
Das Projekt „Autonome Granulare Materialien in der Architektur“ (AGMA) soll die Verwendung von autonom formverändernden Partikeln in einem granularen Material für architektonische Strukturen untersuchen. Granulare Materialien sind Systeme mit hohen Teilchenzahlen, in denen die einzelnen Teilchen, die Partikel, nicht fest an einander gebunden sind, sondern nur in losem Reibungskontakt stehen. Dadurch dass diese Materialien nicht gebunden sind, lassen sie sich sowohl rekonfigurieren als auch vollständig rezyklieren. Die einzelnen Partikel sind in ihrer Geometrie und ihrer Materialität definiert. Autonom formverändernde Partikel können sich selbständig zu verschiedenen geometrischen Grundtypen umformen und erzeugen auf diese Weise verschiedene architektonische Eigenschaften des gesamten granularen Materials.
Antragsstellerin: Karola Dierichs, Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung, Universität Stuttgart. Projektpartner: Heinrich M. Jaeger, Jaegerlab, University of Chicago und Thorsten Pöschel, Institut für Multiskalensimulation, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Das Vorhaben Quantum Humanities möchte die Vorteile der neuen Quantencomputer-Technologie für die Bearbeitung von bestehenden, wie auch völlig neuen Fragestellungen in den Digital Humanities untersuchen. Da Quantencomputer klassischen Computern in bestimmten Bereichen (Schnelligkeit, Parallelität, Lösung bisher kaum lösbarer Problemklassen, etc.) überlegen sind, bieten sie ein Potenzial, das auch für die Digital Humanities erfolgsversprechend eingesetzt werden könnte. Wie die Umsetzung der Vision solcher „Quantum Humanities“ aussehen kann, soll mit dem Vorhaben anhand eines ersten Anwendungsfalls aus dem Stuttgarter Digital Humanities Projekt MUSE, das sich mit der Kommunikation von Filmkostümen beschäftigt, erprobt werden. Darüber hinaus soll Wissen für weiterführende komplexe Anwendungen aufgebaut werden.
Antragsstellerin: Dr. Johanna Barzen, Institut für Architektur von Anwendungssystemen.
In diesem Projekt sollen neuartige Quantensensoren zur Messung von Magnetfeldern entwickelt werden, die durch die elektrische Aktivität von Skelettmuskeln erzeugt werden. Bestehende elektrische Messtechniken sind durch die Tatsache begrenzt, dass elektrische Signale während ihrer Ausbreitung durch biologisches Gewebe zerfallen. Zur Optimierung ist ein radikal neuer Ansatz erforderlich. Magnetische Messungen bieten signifikante Vorteile gegenüber elektrischen Messungen, einschließlich einer verbesserten Genauigkeit bei der Abschätzung des Ortes und der Größe von bioelektrischen Quellen. Der interdisziplinäre Ansatz des Vorhabens kombiniert Fachwissen in Simulationstechnologie, Quantenphysik und Ethik. Ziel ist es, Proof-of-Concept-Messungen durchzuführen und Geräteprototypen zu entwickeln.
Antragsstellerin: Ruth Corkill, Institut für Modellierung und Simulation biomechanischer Systeme.
Auf der Basis von Kommunikationsexperimenten möchte das Team der beteiligten Wissenschaftler Wirkungen unterschiedlicher Kommunikationsformate untersuchen. Die Forscher postulieren, dass das Ziel des gegenseitigen Verständnisses durch kooperative Dialogformate befördert werden kann, während sich das Ziel von besserem Wissen insbesondere dann realisieren lässt, wenn Diskussionsteilnehmende im Rahmen einer kontroversen Debatte mit Gegenargumenten konfrontiert und herausgefordert werden. Im Projekt sollen Kommunikationsexperimente mit Agentensimulation und computerlinguistischen Methoden verknüpft werden. Während Multiagenten-Simulationen helfen, komplexe (und unerwartete) Ergebnisse unterschiedlicher Argumentations-Strategien besser zu verstehen, können computerlinguistische Methoden dazu beitragen, Analysen zu argumentativer Qualität und Emotion zu automatisieren. Darüber hinaus ist geplant, dass das Projekt auch die Entwicklung einer artifiziellen Moderation mit einschließt, die für die Weiterentwicklung gelingender digitaler Kommunikation entscheidend ist.
Antragsteller: Prof. André Bächtiger, Institut für Sozialwissenschaften. Projektpartner: Gregor Betz, KIT; Raphael H. Heiberger Institut für Sozialwissenschaften, Universität Stuttgart; Prof. Jonas Kuhn und Sebastian Pado, Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung, Universität Stuttgart.
Antikörper haben sich als therapeutische Moleküle für die Behandlung sehr unterschiedlicher Krankheiten etabliert. Antikörper sind allerdings komplexe Moleküle und in ihrer Herstellung sehr aufwändig. Als Alternative dazu wurden deshalb in den vergangenen Jahren sogenannte Gerüstproteine entwickelt. Der Ansatz des Forschungsvorhabens beruht nun darauf, ein neuartiges Gerüstprotein herzustellen, das vielfältige Möglichkeiten zum Einbau von künstlichen Bindestellen bietet und dabei gleichzeitig therapeutisch vorteilhafte Eigenschaften aufweist. Umgesetzt wird das Projekt durch eine enge, interdisziplinäre Kooperation von Arbeitsgruppen aus der Simulationstechnologie und dem Biomedical Engineering. Im Erfolgsfall bieten diese neuen Gerüstproteine ein großes Potential für die Behandlung ganz unterschiedlicher Erkrankungen, z.B. von chronisch-entzündlichen Erkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen sowie Tumorerkrankungen.
Antragssteller: Prof. Roland Kontermann, Institut für Zellbiologie und Immunologie und Prof. Jürgen Pleiss, Institut für Biochemie und Technische Biochemie.
Als Grundlage des Projekts dient die an der Universität Stuttgart (Institut für Technische Optik, ITO, und 4. Physikalisches Institut) entwickelte Technik zur additiven Herstellung von mikrooptischen Systemen. Diese Technik wird erfolgreich im Bereich faserbasierter optischer Kohärenz-Tomographie an der renommierten „Medical School“ der University of Adelaide, Australien eingesetzt. Der Antrag ermöglicht eine enge Zusammenarbeit zwischen der Universität Stuttgart und der University of Adelaide, unter anderem durch zwei Forschungsaufenthalte von Prof. Alois Herkommer, ITO. Im Rahmen der Zusammenarbeit sollen weitere Ideen zur minimalinvasiven optischen Diagnostik entstehen, Prototypen in Stuttgart hergestellt und bei den Anwendern in Australien kliniknah erprobt werden. Zudem erhoffen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein besseres Verständnis der klinischen Anforderungen an Medizingeräte. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen dem interuniversitären Studiengang Medizintechnik der Universitäten Stuttgart und Tübingen zugutekommen und die Basis für neue Forschungsanträge und Start-Ups an der Universität Stuttgart bilden.
Antragssteller: Prof. Alois Herkommer, Institut für Technische Optik.