Müssen Gebäude permanent sein? Wie kann eine Architektur aussehen, die sich an die zukünftigen gesellschaftlichen Veränderungen anpasst? Und wie können wir CO2 neutral bauen? Mit diesen Fragen setzt sich Professor Martin Ostermann am Institut für Baukonstruktion auseinander. Der Architekt lehrt seit dem Wintersemester 2018/19 an der Universität Stuttgart. „Ich konzentriere mich auf zwei Forschungsschwerpunkte: adaptive Architektur und neue Materialien. Diese sind bestimmt durch sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen und den fortschreitenden Klimawandel“, beschreibt Ostermann seine Arbeit am Lehrstuhl für Baukonstruktion, Bautechnologie und Entwerfen (IBK2). Der Lehrstuhl ist als „Participating Researcher“ ein Teil des Exzellenzclusters „Integratives computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur“: Neues Denken für die gebaute Umwelt.
Der 50-Jährige hat an der RWTH Aachen University, der Bartlett School of Architecture und der Architectural Association in London Architektur studiert. Nach dem Studium arbeitete Ostermann für sechs Jahre bei Studio Daniel Libeskind in Berlin und leitete dort mehrere Projekte. 2005 gründete er mit einer Partnerin das Architekturbüro magma architecture. Ein großes Projekt des Berliner Büros war die Sportstätte für olympisches und paralympisches Sportschießen für die Olympischen Spiele 2012 in London. Das Besondere: Teilweise sind die Anlagen 2014 zu den Commonwealth Games in Glasgow transportiert worden und dort wiederverwendet worden. „Darauf sind wir sehr stolz, denn ressourcenschonendes Bauen ist uns sehr wichtig.“
Mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Architektur beschäftigt sich Ostermann auch am Lehrstuhl intensiv. Eine wichtige Komponente spielt die adaptive Architektur. „Meine Forschung über adaptive Architektur richtet sich nicht nur auf Gebäudeteile, sondern auf die Adaption von ganzen Gebäuden.“ Es gehe darum, Konzepte in Zeiten des sich wandelnden Klimas und der baulichen Umgebung zu entwickeln. Eine Überlegung ist zum Beispiel, Gebäude so zu konzipieren, dass sie mit ansteigendem Meeresspiegel von der Küste ins Landesinneren umziehen können.
Das digitale Entwerfen, der Einsatz von computergesteuerten Fertigungsprozessen sowie der 3D-Druck eröffnen uns viele neue Wege und Chancen.
Prof. Martin Ostermann
Adaptive Architektur spielt bei Ostermann auch in der Lehre eine zentrale Rolle. Der Architekt lehrte bereits an Universitäten in Göteborg, Sydney, Perth und im Oman und setzte sich somit weltweit mit dem Thema auseinander. Auch an der Universität Stuttgart wird Ostermann mit Studierenden einen adaptiven Entwurf erarbeiten: „Wir entwerfen ein Gebäude, das an zwei Standorten stehen wird. Einen Pavillon für die Weltausstellung Expo 2020 in Dubai, der später nach Stuttgart transportiert wird.“ Arabische Wüste und deutsche Großstadt – der Pavillon muss sich an beiden Standorten den jeweiligen Bedingungen anpassen.
Es ist eine Herausforderung, bereits beim Entwurf diese Möglichkeit zur Veränderungen miteinzuplanen. Die digitale Fabrikation beeinflusst inzwischen Ostermanns gesamten Forschungsbereich: „Das digitale Entwerfen, der Einsatz von computergesteuerten Fertigungsprozessen sowie der 3D-Druck eröffnen uns viele neue Wege und Chancen.“
Neue Materialien als Forschungsschwerpunkt
Ostermanns zweiter Forschungsschwerpunkt sind neue Materialien. Es gehe darum, neben den bisherigen Materialien Beton, Mauerwerk, Stahl und Holz, ressourcenschonende, nachwachsende und CO2-neutrale Materialien zu entwickeln. Denn der zur Betonherstellung benötigte Sand sei inzwischen eine knappe Ressource. „Und die Zementproduktion verursacht eine höhere CO2-Produktion als der gesamte Flugverkehr weltweit. Deshalb forschen wir an biobasierten Materialien, Leichtbau-Materialien und multiple property materials“. Der von ihm geprägte Begriff der multiple property materials (MPM) meint, dass ein Material mehrere Eigenschaften wie zum Beispiel statische Eigenschaften, Wärmedämmung, akustische Dämmung und Witterungsschutz vereint. Häufig werden beim Bauen Materialien verwendet, die getrennte individuelle Eigenschaften haben. Das führt zu einer Verschmelzung unterschiedlicher Materialien, die gemeinsam entsorgt werden und nicht mehr recyclefähig sind.
In den nächsten Wochen entsteht ein Forschungslabor, welches Studierenden und Wissenschaftlern ermöglicht, neue Materialien zu erforschen und dabei Hülle, Fassade und Konstruktion zusammenhängend zu betrachten. „Unser konkretes Ziel ist es, Alternativen für den Beton zu finden“, erklärt Ostermann. Übergeordnet gehe es darum, Lösungen für den Umgang mit den neuen klimatischen und gesellschaftlichen Bedingungen in der Architektur zu finden.
Dass Veränderungen in der Gesellschaft die Architektur beeinflussen, merkt der Architekt selbst: „Meine Familie wohnt noch in Berlin und mein Sohn geht dort zur Schule, deshalb pendle ich derzeit. Ob und wann wir nach Stuttgart ziehen wissen wir noch nicht.“ Das Pendeln sei bislang kein Problem. „Die gesteigerte Mobilität und das veränderte Arbeitsverhalten wirkt sich letztlich wieder auf meine Arbeit als Architekt aus. Abgeschottete Einzelbüros nutzt heute zum Beispiel fast keiner mehr, integrative, flexible und veränderbare Lösungen sind gefragt.“