23. Mai 2012, Nr. 30

NBBW empfiehlt Energiewende mit Augenmaß

Seit dem Reaktorunfall von Fukushima im März 2011 und dem beschlossenen Atomausstieg hat das Thema „Energiewende“ in Deutschland und Baden-Württemberg Hochkonjunktur. Das Ziel ist der Ausbau erneuerbarer Energien im großen Maßstab, die Steigerung der Energieeffizienz sowie der Ausbau der Netze und Speicher. Der Nachhaltigkeitsbeirat Baden-Württemberg (NBBW) hat heute ein Gutachten mit Empfehlungen zu einem erfolgreichen Umbau des Energiesystems mit dem Titel „Energiewende – Implikationen für Baden-Württemberg“ veröffentlicht und an den Minister für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg Franz Untersteller übergeben. Der NBBW rät zu einem ebenso konsequenten wie abwägenden Vorgehen: „Der Beirat steht hinter der Energiewende, möchte aber sicherstellen, dass alle Wirkungen und Nebenwirkungen der notwendigen Maßnahmen hinreichend beachtet und negative Auswirkungen wo immer möglich vermieden oder ausgeglichen werden“, so Prof. Dr. Ortwin Renn, Vorsitzender des NBBW und Lehrstuhlinhaber am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart bei der Übergabe des Gutachtens.

Die Energiewende stellt für Baden-Württemberg aufgrund spezifischer Voraussetzungen eine besondere Herausforderung dar. Die Kernenergie trägt wesentlich zur Stromerzeugung im Land bei. Diesen hohen Anteil durch erneuerbare Energien zu ersetzen, bedeutet umfangreiche Investitionen in Anlagen, Netze und Speicher.

Die Differenz zwischen Angebot und Nachfrage macht eine Nutzung fossiler Energieträger wie Gas und Kohle über einen Zeitraum von mehreren Dekaden erforderlich. Zusätzlich dazu muss Strom aus dem deutschen und europäischen Stromverbund nach Baden-Württemberg importiert werden. Der Atomausstieg bedingt somit eine (vorübergehende) Steigerung des Einsatzes fossiler Energieträger, was wiederum zur Erhöhung der CO2-Emissionen und damit zu einer neuen Herausforderung für die Erreichung der Klimaschutzziele führt.

Modellrechnungen des NBBW zeigen, dass bei ganzheitlicher Betrachtung nach Abschaltung der Kernkraftwerke in der ersten Dekade mit einem Anstieg der CO2-Emissionen und anderer Treibhausgase um bis zu mehr als 65 Prozent zu rechnen ist. Importe (auch aus Kernenergienutzung) sind deshalb wichtig für die jetzt anstehende Übergangszeit, um den Umbau wirtschafts-, umwelt- und sozialverträglich zu leisten, und zwar ohne erhebliche CO2- Emissionssteigerung, ohne übermäßige wirtschaftliche Risiken und mit einer realistischen Perspektive, der Welt mittelfristig einen Weg zu Wohlstand ohne Kernenergie und unter Einhaltung des 2°C-Zieles aufzuzeigen. Im Hinblick auf das Energiesystem empfiehlt der NBBW unter anderem, Speichertechnologien zu fördern und Ausbauhemmnisse zu beseitigen sowie Erdgasnetze als vorhandene, leistungsfähige Infrastruktur und größten verfügbaren Speicher stärker in die Gesamtsystembetrachtung einzubeziehen.

Windenergie: Zielkonflikte anerkennen
In Baden-Württemberg soll vor allem der Ausbau der Windenergie forciert werden. Der Beirat empfiehlt generell Augenmaß in der Umsetzung und eine zeitliche Staffelung bei der Planung der Windkraftstrategie im Land. Windräder mit Höhen von 180 m (ungefähr vergleichbar mit dem Ulmer Münster) sind großtechnische Anlagen, mit denen man erst Erfahrung sammeln muss. Zudem werden die geplanten Windkraftanlagen Landschaftsbild und -eindruck dauerhaft verändern. Der Beirat weist darauf hin, dass die Erreichung des prinzipiell sehr wünschenswerten Ausbauzieles dieser regenerativen Energiequelle und dem dadurch angestrebten Klimaschutzbeitrag des Landes nicht durch eine signifikante und für viele inakzeptable Veränderung des Landschaftseindrucks erkauft werden darf. Um zu vermeiden, dass beim Ausbau der Windenergie in einem Eilverfahren irreversible räumliche Entscheidungen für die nächsten Jahrzehnte getroffen werden, sollte deshalb nach Inkrafttreten der Novellierung des Landesplanungsgesetzes ein mindestens einjähriges Moratorium festgelegt werden, um besonders geeignete Standorte zu identifizieren.
Die Nutzung regenerativer Energieträger geht generell mit einem hohen Flächenbedarf einher. Die Energiewende bedeutet daher unweigerlich verstärkte Konkurrenzen um das nicht vermehrbare Gut Boden. Erforderlich ist vor diesem Hintergrund eine sorgfältige Bilanzierung von Flächennutzungsansprüchen, eine Abwägung der konfligierenden Belange sowie eine konfliktminimierende Nutzungs- und Standortplanung unter Einbindung betroffener Akteure. Die politischen Entscheidungsträger sind aufgefordert, dies mit Augenmaß und ohne übersteigerten Handlungs- und Entscheidungsdruck vorzunehmen.

Neue Betreiber- und Beteiligungsmodelle
Im Hinblick auf die Steigerung der Energieeffizienz empfiehlt der NBBW außerdem eine deutliche Steigerung der energetischen Sanierung öffentlicher, insbesondere auch landeseigener Gebäude. Dies sollte vor allem auf der Basis der im Land durch die Klima- und Energieagentur Baden-Württemberg (KEA) bei Kommunen und Landkreisen bereits erfolgreich durchgeführten und fortentwickelten Energiesparpartnerschafts-Modelle erfolgen.
Die Energiewende wird auch Lebensstiländerungen notwendig machen. Andere, bessere und weniger intensive Formen der Energienutzung sind Verhaltensmuster, die durch technische Installationen zwar erleichtert oder erschwert, aber nur selten determiniert werden. Bei allen Optionen zum effizienten Umgang mit Energie ist deshalb eine integrierte Betrachtungsweise sinnvoll, die sich auf das Zusammenwirken von technischen Möglichkeiten (oder Barrieren) und Handlungsdeterminanten (Wissen, Einstellung, Motivation, soziale Normen, verschiedene Formen von Anreizen, Feedback) konzentriert.
Bei Infrastrukturmaßnahmen und komplexen Planungsprozessen im Umweltbereich empfiehlt der NBBW, auf innovative Verfahren der Kommunikation, Partizipation und Konfliktschlichtung zu setzen. In diesen Fällen sollten die relevanten Akteure (Kommunen, Übertragungsnetzbetreiber, Energieversorger, Bürgerinitiativen, Naturschutzverbände etc.) möglichst frühzeitig in einen konstruktiven Diskurs über den geplanten Ausbau eingebunden werden, um berechtigte Interessen berücksichtigen zu können und zu einer möglichst konsensualen Lösung zu gelangen.

Das Gutachten kann bei der Geschäftsstelle des Nachhaltigkeitsbeirats Baden-Württemberg angefordert oder auf der Homepage des NBBW abgerufen werden.

Kontakt: Dr. Michael Ruddat
Geschäftsstelle des Nachhaltigkeitsbeirats Baden-Württemberg
Tel. 0711 685-83261
Fax 0711 685-82175
E-Mail: info@nachhaltigkeitsbeirat-bw.de
Internet: http://www.nachhaltigkeitsbeirat-bw.de

Der Nachhaltigkeitsbeirat Baden-Württemberg (NBBW) ist ein unabhängiges, wissenschaftliches Beratungsgremium der Landesregierung und besteht aus elf Mitgliedern. Er wurde am 22. April 2002 von der Landesregierung Baden-Württemberg ins Leben gerufen und zwei Mal für je drei Jahre verlängert (04. Oktober 2005 bzw. 03. Februar 2009). Der Nachhaltigkeitsbeirat hat die Aufgabe, das Land auf dem Weg in eine nachhaltige und dauerhaft umweltgerechte Entwicklung zu beraten und die Umsetzung und Fortschreibung des im Dezember 2000 vom Ministerrat beschlossenen „Umweltplan Baden-Württemberg“ kritisch zu begleiten. Dazu überprüft er in regelmäßigen Abständen die Erreichung der dort formulierten Ziele und gibt Empfehlungen zu Schwerpunkten bei der Umsetzung ab. Im März 2012 endete die dritte Berufungsperiode. Das Energiegutachten stellt den Abschluss der Arbeit des Beirats dar. Weitere Informationen sowie sämtliche bisher erschienene Gutachten sind auf der Homepage des NBBW abrufbar: www.nachhaltigkeitsbeirat-bw.de.

Die Mitglieder des Nachhaltigkeitsbeirats (Periode 2009-2012) sind:
• Prof. Dr. Stephan Dabbert, Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre, Universität Hohenheim
• Prof. Dr. Thomas Dyllick, Institut für Wirtschaft und Ökologie, Universität St. Gallen
• Dr. Peter Fritz, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
• Dr. Ulrich Höpfner, IFEU - Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg
• Prof. Dr. Giselher Kaule, Institut für Landschaftsplanung und Ökologie, Universität Stuttgart
• Prof. Dr. Lenelis Kruse-Graumann, Psychologisches Institut, Universität Heidelberg (stellv. Vorsitzende)
• Prof. Dr. Christine Neumann, Abteilung Dermatologie und Venerologie, Universität Göttingen
• Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher, Forschungsinstitut für anwendungsorientierte  Wissensverarbeitung/n (FAW/n), Ulm
• Prof. Dr. Dr. h. c. Ortwin Renn, Institut für Sozialwissenschaften, Abteilung für Technik- und Umweltsoziologie, Universität Stuttgart (Vorsitzender)
• Prof. Dr. Stefan Siedentop, Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung,
Universität Stuttgart
• Prof. Dr. Lutz Wicke, Institut für Umweltmanagement (IfUM), Europäische Wirtschaftshochschule Berlin

  

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