Physiker des 5. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart erbringen den ersten experimentellen Nachweis eines Moleküls aus zwei gleichen Atomen, das trotz hoher Symmetrie eine räumliche Ladungstrennung aufweist. Diese Beobachtung widerspricht der klassischen Lehrbuchmeinung, wie sie in vielen Physik- und Chemielehrbüchern beschrieben wird. Der von den Stuttgartern erbrachte Nachweis verbessert nicht nur das Verständnis von polaren Molekülen. Zukünftig könnten mit ultrakalten polaren Molekülen auch chemische Reaktionen einzelner Moleküle studiert und kontrolliert werden. Die Arbeit wurde in der renommierten Zeitschrift Science*) veröffentlicht.
Ein dipolares Molekül entsteht durch eine Verschiebung des Ladungsschwerpunktes der negativ
geladenen Elektronenwolke relativ zum positiven Kern, wodurch ein permanentes elektrisches
Dipolmoment auftritt. Üblicherweise ist die Ursache dieser Ladungstrennung eine unterschiedlich
starke Anziehungskraft der Kerne unterschiedlicher Elemente auf die negativen Elektronen. Daraus
folgt, dass homonukleare Moleküle, also Moleküle aus gleichen Atomen, nach gängigem Verständnis aus
Symmetriegründen kein Dipolmoment besitzen.
Bei den in der Gruppe von Prof. Tilman Pfau entdeckten homonuklearen Molekülen mit
permanentem Dipolmoment handelt es sich um schwach gebundene Rydberg Moleküle, mit deren
erstmaligen Erzeugung die Arbeitsgruppe 2009 weltweit für Aufsehen sorgte. Die Moleküle setzen sich
aus zwei gleichen Atomen des Elements Rubidium zusammen, von denen sich eines in einem hoch
angeregten elektronischen Zustand befindet, einem sogenannten Rydberg-Zustand. Die ungewöhnliche
Bindung wird einzig durch das hochangeregte Rydberg-Elektron des angeregten Atoms vermittelt, das
am zweiten Atom gestreut wird. Durch die Streuung des Rydberg-Elektrons am gebundenen Atom ändert
sich jedoch die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Rydberg-Elektrons leicht, was zu einer Störung
der Kugelsymmetrie führt und ein Dipolmoment erzeugt. Aufgrund bisheriger theoretischer
Behandlungen wurde kein Dipolmoment erwartet.
Ein normalerweise auftretender Austausch der Anregung zwischen den Atomen, der die Asymmetrie
in der negativen Elektronenwolke aufheben würde, wird durch die für zweiatomige Moleküle riesige
Größe (1000 mal größer als ein Sauerstoffatom) unterdrückt. Diese Moleküle erreichen nämlich die
Größe eines Virus. Die Wahrscheinlichkeit, dass die elektronische Anregung von einem zum anderen
Atom übergeht, ist daher so klein, dass sie statistisch nur einmal seit Bestehen des Universums
stattgefunden hätte. Als Folge zeigen die homonuklearen Moleküle ein Dipolmoment. Zusätzlich muss
die Molekülachse im Raum ausgerichtet sein, um ein gerichtetes Dipolmoment zu erzeugen. Aufgrund
seiner Größe rotiert das Molekül so langsam, dass sich das Dipolmoment für einen Beobachter durch
die Drehung auch nicht wieder zu null mittelt.
Der experimentelle Nachweis gelang den Stuttgarter Physikern in einer extrem kalten
Atomwolke, indem sie die Energieverschiebung des dipolaren Moleküls im elektrischen Feld
laserspektroskopisch gemessen haben. Zusammen mit theoretischen Physikern des Max-Plank-Instituts
für Physik komplexer Systeme in Dresden und des Harvard-Smithonian Center for Astrophysics in
Cambridge, USA, konnte das physikalische Phänomen auch theoretisch bestätigt werden.
Ansprechpartner:
Johannes Nipper, 5. Physikalisches Institut, Tel. 0711/685-64977, e-mail:
j.nipper@physik.uni-stuttgart.de
W. Li, T. Pohl, J. M. Rost, Seth T. Rittenhouse, H. R. Sadeghpour, J. Nipper, B. Butscher, J.
B. Balewski, V. Bendkowsky, R. Löw, T. Pfau: A Homonuclear Molecule with a Permanent Electric
Dipole Moment. Science 25 November 2011, 334 (6059): 1110-1114. DOI: 10.1126/science.1211255
www.sciencemag.org/content/334/6059/1110.full.pdf