Kino und Internet prägen die Sicht der Menschen auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Epochen heute oft mehr als Vorlesungen und Bibliotheken. Wer den Literaturbetrieb verstehen will, muss daher auch intermedial arbeiten, fordert Prof. Torsten Hoffmann, der seit dem Wintersemester 2018/19 die Abteilung Neuere Deutsche Literatur II am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart leitet.
Fragt man Torsten Hoffman nach der Klammer über seiner Forschung, so antwortet der 45-Jährige spontan: „Die Vielfalt.“ Das Schöne an den Literaturwissenschaften sei, dass die Forscherinnen und Forscher mehrere Schwerpunkte verfolgen können – und auch müssen. Also beschäftigt sich Hoffmann mit scheinbar so verschiedenen Themen wie den Gedichten Rainer Maria Rilkes, der Kulturgeschichte des Interviews oder der Neuen Rechten; für seine Habilitationsschrift untersuchte er Körperpoetiken. Einen Schwerpunkt gibt es dennoch, die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, und: „Meine Herangehensweise ist intermedial, es geht mir um das Verhältnis von Literatur und anderen Medien.“
Was das konkret heißt, wird an dem Projekt „Der Autor als Filmfigur“ deutlich, das er gemeinsam mit Prof. Doren Wohlleben, Universität Marburg, leitet. Es widmet sich unter anderem so genannten ‚Biopics‘, filmischen Biografien, die das Leben von Goethe, Schiller oder Lou Andreas-Salomé inszenieren, und dokumentarischen Kinofilmen zu Zeitgenossen wie Friederike Mayröcker, Felicitas Hoppe oder Peter Handke. Auch Filmporträts auf den Webseiten von Verlagen werden beleuchtet oder Autoren wie Rainald Goetz, der 2012 per Video auf die Kritiken zu seinem Roman ‚Johann Holtrop‘ reagiert hat.
Das Bild, das sich die Menschen von einem Autor oder einer Epoche machen, ist plurimedial geworden.
Prof. Torsten Hoffmann
Die Idee dahinter erklärt Hoffmann so: „Die literaturhistorische Gedächtniskultur, also das Bild, das sich die Menschen von einem Autor oder einer Epoche machen, ist plurimedial geworden.“ Will heißen: Wenn ein Film wie ‚Shakespeare in Love‘ alleine in Deutschland drei Millionen Besucher in die Kinos lockt, beeinflusst er deren Bild von dem Schriftsteller weit mehr als jede Buch-Biographie. Das gilt in besonderem Maße auch für die jungen Menschen, die von der Schule an die Universität kommen. „Natürlich kann man einwenden, dass ein solches Autorbild nicht differenziert genug ist“, meint Hoffmann. „Aber die Literaturwissenschaft muss es wahrnehmen und die Unterschiede der verschiedenen Betrachtungsweisen deutlich machen: Was zeigt der Film? Was zeigt das Buch? Welche Vorstellung von Autoren und von Autorschaft haben Menschen heute?“
Rilke-Forschung als Ausstellung
Das Spannungsfeld von Literatur und anderen Medien inspiriert auch Hoffmanns Forschung zu Rainer Maria Rilke. Wie kaum ein anderer Dichter hat dieser sich auch mit Bildender Kunst auseinandergesetzt: Rilke war Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin, schrieb eine ganze Briefreihe über das Werk des Malers Paul Cézanne, pflegte enge Beziehungen zur Künstlerkolonie Worpswede und eine streitbare Freundschaft mit deren Protagonistin Paula Modersohn-Becker.
Letztere gab den Anstoß zu der Kabinettausstellung „Rilke in Bremen“ im Jahr 2018, die Hoffmann im Paula Modersohn-Becker-Museum kuratierte. „Ein Projekt, das riesigen Spaß gemacht hat“, sagt Hoffmann. Und eines, das spannende Fragen aufwarf: Welche Exponate vermitteln das Werk des Poeten auf lebendige Weise, wie konzipiert man so eine Ausstellung, welches Narrativ soll sie erzählen? Entstanden sind schließlich sechs Themeninseln, die neben Manuskripten, Briefen und Fotos eben auch das Ledersofa und den Füllfederhalter Rilkes zeigen, Skulpturen von Rodin, das Gemälde, das Rilke von Paula Modersohn-Becker gekauft hat oder auch schlichte Rechnungsschnipsel.
Ob das Konzept die Ausstellungsbesucher tatsächlich dazu bringt, sich mit Lyrik zu befassen? Hoffmann – seit 2017 Vizepräsident der Internationalen Rilke-Gesellschaft – ist zuversichtlich: „Wichtig ist es, ein Startinteresse zu erzeugen. Und eine faszinierende Persönlichkeit motiviert zum Lesen.“
Geschichte des Interviews
In einem derzeit in der Vorbereitung befindlichen Projekt gemeinsam mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach möchte Hoffmann die Geschichte des Interviews aufarbeiten. Es knüpft unter anderem an die Tagung „Echt inszeniert“ an, die 2012 im Frankfurter Literaturhaus stattgefunden und das Interview vom 19. bis ins 21. Jahrhundert verfolgt hat. Einen Fokus hat Hoffmann dabei auf die ersten Schriftstellergespräche im Radio der Weimarer Republik gerichtet. Politiker durften sich damals im Rundfunk nicht äußern, und so waren die Schriftstellergespräche dort die einzigen unzensierten Interviews überhaupt. „Weiß man um die Geschichte des Radios, überrascht es also nicht, dass es in diesen Gesprächen wenig um Bücher und sehr viel um Politik ging“, berichtet Hoffmann.
Austausch mit Praktikern
Um Literaturwissenschaft über die Grenzen der Forschungs-Community hinaus zu den Menschen zu bringen, ist Hoffmann zudem als Editor tätig und moderiert Veranstaltungen, zum Beispiel an den Literaturhäusern in Stuttgart, Frankfurt oder Freiburg. Umgekehrt hat er sich vorgenommen, für die Studierenden Praktikerinnen und Praktiker des Literaturbetriebs an die Universität Stuttgart zu holen – den Anfang macht Volker Weidermann, Literatur-Chef des SPIEGEL und Gastgeber des Literarischen Quartetts im ZDF.
Für Hoffmann selbst bedeutet Lehre auch die Chance, sich in neue Themen einzuarbeiten. Aktuell befasst er sich mit der Rolle der rechten Parteien im Literaturbetrieb, die sich zum Beispiel in Prügeleien auf der Frankfurter Buchmesse oder in Gedichten in Konzeptpapieren der AfD niederschlägt. Aber auch die Holocaust-Literatur ist eins seiner Themen, Exkursion zur Gedenkstätte Buchenwald inklusive. Auch das ist es, was Hoffmann an den Literaturwissenschaften unter dem Stichwort „Vielfalt“ reizt: „Rilke und Politik in einem Job zusammenzubringen, ist schon ein Privileg.“