Ob im Auto, im Handy oder in der Chirurgie: Navigationssysteme, einst Domäne der militärischen Nutzung, sind heute ein Massenmarkt. Und nicht zuletzt durch das Zusammenwachsen des amerikanischen Systems zur globalen Positionsbestimmung GPS mit dem europäischen Satellitensystem Galileo ist es heute möglich, vom All aus die Position von Objekten mit einer Größe von nur wenigen Zentimetern zu bestimmen. Und zwar mit einer Präzision, die an ein Wunder grenzt.
Und es soll noch genauer werden. Dazu gilt es, Einflussfaktoren auszuschalten, die bisher kaum ins Gewicht fielen. Zum Beispiel die Signalausbreitung: Satellitensignale durchdringen die Erdatmosphäre, also dort wo unser Wetter bestimmt wird, und breiten sich langsamer aus als in Vakuum. Diese Verzögerung lässt sich zwar mit Hilfe von Korrekturmodellen berücksichtigen, doch es bleibt eine Restabweichung, die die geodätischen Resultate beeinträchtigt. „Daher suchen wir nach besseren Korrekturmodellen“, beschreibt Hobiger eines seiner Forschungsziele.
Auch die Zusammenführung verschiedener Satellitensysteme zu einem Globalen Navigations-Satelliten-System (GNSS) ist eine Herausforderung: Neben GPS und Galileo gehören dazu die Systeme Beidou (China) und GLONASS (Russland) sowie diverse Ergänzungssysteme. Sie alle senden verschiedene Signale auf verschiedenen Frequenzen, was die gemeinsame Nutzung erschwert. „Um die die dabei auftretenden Fehler zu korrigieren, braucht man ein grundlegendes Systemverständnis“, sagt Hobiger. „Das wollen wir weiterentwickeln.“
Navigation als Multiwerkzeug
Aber auch in ganz neue Bereiche der Navigation möchte Hobiger vordringen. „Wir erleben derzeit eine Verlagerung von der Hardware zur Software“, sagt der Geodät und Geophysiker. „Das eröffnet der Wissenschaft mit einfachen Mitteln neue Möglichkeiten.“ So könnte man zum Beispiel Rohdaten aus einem Handy nutzen, um das Wetter zu bestimmen oder die Umgebung zu charakterisieren.
Bei der Positionsbestimmung von Fahrzeugen greift man seit langem ergänzend auf Daten von Komponenten zurück, die im Auto selbst verbaut sind, zum Beispiel auf Rad- und Abstandssensoren oder den Beschleunigungsmesser. „Gibt es keine Beschleunigung, muss das Auto mit konstanter Geschwindigkeit weitergefahren sein“, erläutert Hobiger. „Daraus kann man die Positionsveränderung errechnen, und zwar auch dann, wenn die freie Sicht auf einen Satellit versperrt ist, weil das Auto gerade durch einen Tunnel fährt.“ Bei langen Tunneln funktioniere das zwar noch nicht so gut, weil das Fahrzeug mit zunehmender Distanz von der berechneten Achse abdriftet, räumt der Wissenschaftler ein. „Daher entwickeln wir Sensoren, die solche System-Effekte unterdrücken.“
Es gibt hier in Stuttgart über die Geodäsie hinaus eine starke Luft- und Raumfahrt, und auch das industrielle Umfeld passt.
Prof. Thomas Hobiger, Leiter des Instituts für Navigation
Schwerpunkt autonomes Fahren
Von besonderer Relevanz sind diese Überlegungen beim großen Zukunftsthema Autonomes Fahren. Schon jetzt wird das Auto immer mehr zu einem komplexen System, das mit anderen Fahrzeugen oder Gegenständen in der Umgebung, etwa einer Ampel, kommuniziert. Beim autonomen Fahren sind diese Systeme in besonderer Weise gefordert. „Für selbstfahrende Autos müssen Positionierung und Navigation so genau sein, dass das Fahrzeug exakt in der Spur gehalten wird“, verdeutlicht Hobiger, „und zwar auch, wenn es in einer Baustelle eng wird.“
Navigationsdaten spielen aber auch in Bereichen eine Rolle, in denen man es nicht vermuten würde. Nämlich dann, wenn es um den Faktor Zeit geht. An der Börse zum Beispiel, wo Preis eines Wertpapiers exakt zum Zeitpunkt des Kaufs oder Verkaufs bestimmt wird und Millisekunden über Millionen entscheiden. Auch diese Zeitangaben basieren auf GNSS-Daten. Und sie müssen extrem zuverlässig sein. Das Thema Timing ist daher ein weiterer Forschungsaspekt des Wissenschaftlers.
Neben Fragen der klassischen Navigation, der Theorie und der mathematischen Herangehensweise sowie dem Querschnittsgebiet autonomes Fahren möchte Hobiger auch die Navigation von Kleinsatelliten erforschen. Stuttgart sei dafür ein gutes Pflaster, sagt der gebürtige Österreicher, der zehn Jahre in Japan und zuletzt vier Jahre an der Chalmers University of Technology in Schweden geforscht hat. „Es gibt hier in Stuttgart über die Geodäsie hinaus eine starke Luft- und Raumfahrt, und auch das industrielle Umfeld passt.“
Hörsaal umgedreht
Die internationale Prägung des Forschers soll auch den Studierenden zugutekommen. „Am Chalmers setzt man sehr auf problemorientiertes Lernen, also weg von klassischen Prüfungen hin zu mehr Projektarbeit in Gruppen“, berichtet Hobiger, der diesen Ansatz auch in Stuttgart ausbauen möchte. Ebenso wie den „flipped classroom“, den umgedrehten Hörsaal. Bei diesem Konzept wird eine Vorlesung im ersten Jahr gefilmt, im Folgejahr wird während der Vorlesungszeit auf der Basis des Videos diskutiert. „Für die Studierenden ist das zwar aufwändiger, weil sie sich den Stoff des Videos außerhalb der Vorlesung erarbeiten müssen. Aber vor allem in den höheren Semestern führt das Konzept zu sehr guten Lernerfolgen.“
Renommierte Auszeichnung
Wie erst vor kurzem bekannt wurde, wird die American Geophysical Union Hobiger im Dezember dieses Jahres mit dem renommierten Geodesy Section Award 2018 für seine Forschungsleistung sowie sein Engagement in Lehre und Öffentlichkeitsarbeit auszeichnen. In der Reihe der Geodäten, denen diese Ehre zuteilwurde, ist er der erste, der in Deutschland tätig ist.