Die Energiewende vor Ort erleben

14. Dezember 2020

Das Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) und das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) an der Universität Stuttgart haben visualisierte Energieszenarien als Partizipationstool in Ludwigsburg und in Hemmingen erprobt.

Für die Umsetzung der Energiewende in der Fläche ist die örtliche Unterstützung ein wesentliches Erfolgskriterium. Um diese Unterstützung zu verbessern, erprobten das Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) und das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) an der Universität Stuttgart einen neuen Ansatz, bei dem sie visualisierte Energieszenarien einsetzten und als Partizipationstool nutzten. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten zudem, welche Potenziale der Energiegewinnung aus erneuerbaren Energien städtische und ländliche Räume aufweisen und wie die Bürgerinnen und Bürger diese bewerten.

Förderung

Das Projekt erhielt im Rahmen der uni-internen Förderung zum Wissens- und Technologietransfer im Antragsjahr 2018 knapp 60.000 €.

Stadt-Land-Partnerschaften

Das Forscherteam wählte für die Piloträume bewusst ein städtisches und ein ländlich geprägtes Umfeld: die südliche Weststadt in Ludwigsburg und die Gemeinde Hemmingen (eine Gemeinde im Landkreis Ludwigsburg mit rund 7.000 Einwohnern). Für das Projekt gab es einen beratenden Begleitkreis, der sich aus Unterstützer*innen vor Ort und Vertreter*innen aus dem baden-württembergischen Umweltministerium zusammensetzte. Für beide Piloträume berechnete die Forschergruppe den jeweiligen heutigen Energiebedarf sowie die Potenziale, die es dort für eine lokale Energieerzeugung mittels erneuerbarer Energien gibt. 

Verschiedene Möglichkeiten für eine lokale Energieerzeugung mittels erneuerbarer Energien.

Die zukünftig wachsende Abhängigkeit der Städte vom ländlichen Raum zeigte sich dabei deutlich: In der südlichen Weststadt von Ludwigsburg wurde – auch bei Berücksichtigung von Energieeinsparungen – eine erhebliche Deckungslücke von ca. 30 Prozent des heutigen Bedarfs ermittelt, wenn lediglich die vor Ort verfügbaren erneuerbaren Energien verwendet werden dürften. In Hemmingen könnte mit lokal verfügbaren erneuerbaren Energien der – reduzierte – Bedarf gerade vollständig gedeckt werden. „Ähnlich sieht es in anderen Städten aus – auch diese Herausforderung haben wir mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutiert. Sie zeigt die Notwendigkeit für die Etablierung zukünftiger Stadt-Land-Partnerschaften auf“, erklärt Dr. Ulrich Fahl, Projektbeteiligter vom IER.

Bürgerinnen und Bürger wählten in Workshops die Themen aus, mit welchen sie sich bei den Energie­spazier­gängen beschäftigen wollten.

Was wollen Bürgerinnen und Bürger wissen?

In zwei Workshops in Ludwigsburg und in Hemmingen diskutierten 10 bis 15 ortsansässige Bürgerinnen und Bürger, die Interesse an dem Thema hatten, mit dem Forscherteam. Sie erklärten, welche Komponenten der jeweiligen Technologien sie besonders interessieren und mit welchen sie sich unter anderem im Rahmen von sogenannten Energiespaziergängen näher beschäftigen wollen. 

Während es keine großen Stadt-Land-Unterschiede beim Technologieinteresse in den Sektoren Verkehr (autonome Busse) und Strom (Photovoltaik) gab, wurden im Sektor Wärme Unterschiede deutlich: Die Ludwigsburger interessierten sich besonders für die Verlegung von Wärmenetzen und die Nutzung von Wärmepumpen-Heizsystemen, während die Hemminger sich für Solarthermie mit Speicher sowie für Biogas vom Wildblumenfeld entschieden. „Der sozialräumliche Bezug schlägt sich also in den technischen Präferenzen zur Energiewende nieder“, so Prof. Cordula Kropp, wissenschaftliche Direktorin von ZIRIUS.

Das Forscherteam stellte Informa­tionen in Notiz­heften zusammen, die sie vor den Spazier­gängen an die Teilnehmer­*innen verteilten.
Die Diskussionen während der Energiespaziergänge waren lebhaft und fundiert.

Energiespaziergänge mit lebhaften Diskussionen

Kern des Projektes war die Durchführung von zwei Vor-Ort-Begehungen, den Energiespaziergängen. Hierfür simulierte das Projektteam zunächst die in den Workshops ausgewählten Technologieoptionen im Hinblick auf ihre landschaftliche Einbettung, Erträge und weiterer Parameter. Die Ergebnisse wurden visualisiert und Nutzungskonflikte an konkreten Einzelbeispielen dargestellt. So könnte beispielsweise ein Feld für die Installation einer Photovoltaik-Freiflächenanlage oder als Wildblumenfeld genutzt werden – mit deutlich unterschiedlichen Eingriffen in die Natur, aber eben auch unterschiedlich hohen Erträgen. Alle diese Informationen stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Notizheften zusammen, die sie vor den Spaziergängen an die Teilnehmer*innen verteilten. Ausgestattet mit diesen „visualisierten Energiezukünften“ konnten sich die Bürgerinnen und Bürger die ausgewählten Szenarien vor Ort vorstellen und „erleben“. Die Diskussionen während der Spaziergänge waren entsprechend lebhaft und fundiert. Das Forscherteam und die Teilnehmergruppe dokumentierten Aussagen und Ergebnisse während der Spaziergänge.  Bei bisherigen Präsentationen von Energieszenarien wird ihr Potenzial als Kommunikations­tool oft nicht ausgeschöpft, vor allem, weil die rein kogni­tive Aus­einander­setzung mit verschiedenen Zukünften zu abstrakt und zu wenig greifbar erscheint. 

Die Sozialwissenschaftlerin Sandra Wassermann fasst zusammen: „Mit dem Tool der visualisierten Energiezukünften ist es gelungen, Bürgern zu ermöglichen, sich mit der Komplexität der Energiewende sowie den Inter­dependenzen zwischen indi­vidu­ellem Handeln und kollektiven Auswirkungen auseinanderzusetzen. Die Mehrzahl der Teilnehmer*innen wurden durch die Energiespaziergänge angeregt, sich verstärkt mit dem Thema ‚Nachhaltige Energie‘ auseinanderzusetzen und die Themen im Familien- und Bekanntenkreis zu diskutieren. Wir haben eine aktivere Teilhabe an energie­politischen Diskursen und ein gestärktes bürgerliches Engagement („Civic Capacity“) erreicht.“

Vorstellungen von einer wünschbaren Umsetzung der Energiewende müssen die technologischen Möglichkeiten flankieren, um den Ausbau der Erneuerbaren voran zu treiben.

Prof. Cordula Kropp, Leiterin des Instituts für Sozialwissenschaften und wissenschaftliche Direktorin von ZIRIUS.

Eine neue Partnerschaft zwischen Stadt und Land eröffnet neue Chancen für Gemeinden im ländlichen Raum und liefert der Stadt die Energiequellen der Zukunft.

Dr. Ulrich Fahl, Projektbeteiligter vom IER.

Von der Einbindung der Bürgerinnen und Bürger und der Möglichkeit des Feedbacks profitierte auch das Forscherteam. Lokales Expertenwissen der Bevölkerung floss in die Auswahl der im Projekt betrachteten Technologieoptionen ein. Die Schwerpunktsetzung durch die Bürgerinnen und Bürger war eine andere, als wenn sie vom Forscherteam alleine getroffen worden wäre, z.B. bei der Betonung des Potenzials der Fassaden-Photovoltaik durch die Teilnehmer. Sie ist auch ein Hinweis dafür, wie die lokalen Interessenslagen aber auch mögliche Konfliktpotenziale vor Ort sind. Mit den entwickelten partizipativen Ansätzen und der Visualisierung von Energieszenarien wurde ein Instrument entwickelt, das sich in der Anwendung bewährt hat und das es ermöglicht, Hinweise aus der Bevölkerung in die wissenschaftlichen Analysen und die politischen Entscheidungen aufnehmen zu können.

Gemeinsame Projekte von ZIRIUS und IER

Das Projekt macht deutlich, dass die theoretisch errechneten Potenziale der Energiebereitstellung aus erneuerbaren Energien, die der ländliche Raum aufweist, nur dann auch für die städtischen Bedarfe erschlossen werden können, wenn hierüber ein fairer Diskurs geführt wird, wenn echte Stadt-Land-Partnerschaften geknüpft werden. Dieses Ziel wollen die beiden Einrichtungen der Universität Stuttgart, ZIRIUS und IER, gemeinsam in zukünftigen Projekten weiterverfolgen. Das im Rahmen der EU-Förderung über Horizon 2020 neu bewilligte Projekt URBANOME (Urban Observatory for Multi-participatory Enhancement of Health and Wellbeing) bietet hier auf städtischer Ebene eine neue Chance.

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