Neu an der Uni: Prof. Giorgio Cattaneo

Der neue Leiter des Instituts für Biomedizinische Technik, Prof. Giorgio Cattaneo, ist auf katheterbasierte Behandlungen spezialisiert.

Herzinfarkt und Schlaganfall gehören weltweit zu den häufigsten Todesursachen. In der Therapie verwenden Ärztinnen und Ärzte häufig Katheter (dünne Schläuche) und Implantate, um Gefäß- und Herzdefekte zu reparieren oder verengte und verschlossene Gefäße zu weiten beziehungsweise wieder zu öffnen. Prof. Cattaneo will an der Miniaturisierung der Behandlungssysteme sowie an deren Wechselwirkung mit dem biologischen Gewebe forschen.

Prof. Giorgio Cattaneo
Prof. Giorgio Cattaneo erforscht und entwickelt Unterstützungssysteme, die das Herz und den Blutkreislauf in Schwung bringen.

Medizintechnik beschäftigt Giorgio Cattaneo, seit er in den 1990er-Jahren in seiner Geburtsstadt Mailand Maschinenbau studierte und eine Vertiefung in der biomedizinischen Technik wählte. Das Interesse für fluiddynamische Aspekte im menschlichen Kreislaufsystem führte ihn zur Promotion am Helmholtz-Institut für Biomedizinische Technik der RWTH Aachen. „Da habe ich mich von der kardiovaskulären Technik faszinieren lassen“, sagt der heute 44-Jährige. Das Forschungsgebiet umfasst eine Vielzahl an Unterstützungssystemen, die das Herz und den Blutkreislauf in Schwung halten.

Gasmischanlage zur Analyse von Gastransport- und Gasmisch­prozessen in Lungenmodellen.

Cattaneo spezialisierte sich im Rahmen seiner Promotion auf Gasaustauschsysteme, die bei einem Lungenversagen das Blut mit frischem Sauerstoff versorgen. Die Funktion der Lungenbläschen übernehmen dabei mikroporöse Membranen, die im Rahmen der damaligen Forschungsarbeit in ein Katheter-System integriert wurden. Anders als bei extrakorporalen Systemen, die mit einem Dialysegerät vergleichbar sind, entfalten Katheter ihre Funktion direkt innerhalb des Kreislaufs. Das Problem dabei, so Cattaneo: „Im Körper ist wenig Platz.“ Die Herausforderung „hohe Leistung in kleinem Raum“ mündete in ein BMBF-gefördertes Forschungsprojekt sowie in die Zusammenarbeit mit der Hechinger Firma Novalung (heute Fresenius Medical Care), bei der Cattaneo nach seiner Promotion zwei Jahre lang tätig war.

Fokus Schlaganfall

Fasziniert und getrieben von dem Ziel der Miniaturisierung wandte Cattaneo sich neurovaskulären Behandlungen im Gehirn zu, Stichwort Schlaganfall. Gefäße im Gehirn sind besonders klein, gewunden und fragil, das erhöht das Risiko der Verletzung. Zudem ist das Zeitfenster für die Behandlung bei einem Schlaganfall extrem klein: „Ein verschlossenes Gefäß muss innerhalb weniger Stunden behandelt werden, damit Hirnschäden vermieden oder in Grenzen gehalten werden.“

Zur Wiedereröffnung der Gefäße oder auch zur Vorbeugung von Gehirnblutungen werden Mikrokatheter mit einem Durchmesser von weniger als einem Millimeter verwendet. Durch diese werden Implantate geführt, die sich dann vor Ort selbst entfalten. Welche Biomaterialien werden dabei am besten vertragen, welche Geometrien kommen in Frage und welche Herstellungsverfahren eignen sich am besten? Diesen Fragen widmete sich Cattaneo bei Acandis in Pforzheim, einem mittelständischen Medizintechnikunternehmen, das auf die Entwicklung von minimalinvasiven Produkten zur Behandlung von neurovaskulären Erkrankungen spezialisiert ist. Hier war Cattaneo von 2007 bis 2019 tätig, von der Produktentwicklung bis zur Forschungsleitung. Neben der Gefäßbehandlung befasste er sich mit dem Thema der Neuroprotektion, dem Schutz des Hirngewebes. Er verfolgt zwei medizintechnische Forschungsansätze: Die lokale Hypothermie, bei der das Gehirn selektiv gekühlt wird, sowie die elektrische Neuromodulation, bei der die Hirndurchblutung aus dem Gefäß heraus mit schwachen Stromstößen erhöht wird. So eröffnet die katheterbasierte Intervention die Möglichkeit, durch physikalische Wirkung ihre Effekte auch außerhalb des Gefäßes zu entfalten.

Über 100 Patente

Rund 15 öffentlich geförderte Forschungsprojekte mit universitären Partnern, 20 Publikationen und über 100 Patentfamilien entstanden in der Zeit bei Acandis. Dies und ein Lehrauftrag am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) führten dazu, dass es Cattaneo noch stärker in Richtung Forschung und Lehre zog – und schließlich an die Universität Stuttgart. Hier übernimmt er als Nachfolger von Prof. Joachim Nagel den Lehrstuhl für Biomedizinische Technik. Sein Forschungsschwerpunkt wird auf die Interaktion zwischen technischem und biologischem System gerichtet sein, zum Beispiel darauf, wie ein Gefäß im Kontakt mit einem Implantat reagiert. Daraus leiten sich unterschiedliche Fragen ab, zum Beispiel: Mit welchen Beschichtungen oder Strukturen kann man Oberflächen funktionalisieren, um eine bestimmte biologische Reaktion zu erzeugen? Wie lassen sich physikalische Effekte – Kraft, Wärme, Strom – nutzen, um regenerative Prozesse im Körper zu fördern?

Mehr Kenntnisse aus in vitro-Modellen

„Derzeit gibt es eine große Lücke zwischen den üblichen in vitro-Tests und der klinischen  Situation am Patienten“, erklärt Cattaneo. Stents beispielsweise werden zunächst in Kunststoffmodellen getestet, häufig mit vereinfachten Geometrien und teilweise unter Verwendung von Blutersatzflüssigkeiten. „Das ist natürlich eine starke Simplifizierung.“ Der nächste Schritt zur Verifizierung der Funktion von Implantaten sind Tierversuche, die allerdings aufwändig sind, mit ethischen Fragen einhergehen und zudem keine detaillierte Betrachtung der vielen Einflussparameter ermöglichen. „Stattdessen möchte ich mehr Biologie in in vitro-Versuche bringen, damit diese realitätsnäher werden.“ In Frage kommen zukunftsträchtige Methoden des Tissue Engineering, also des Aufbaus von biologischem Gewebe. „Diese Instrumente möchte ich nutzen, um Prozesse außerhalb des Organismus live beobachten zu können.“ Ganz zum Verschwinden kommen Tierversuche dadurch wohl nicht. Aber sie werden gezielter und auf eine finale Phase der präklinischen Validierung beschränkt.

Praxiswissen für die Lehre

„Den Studierenden möchte ich näher bringen, wie aus der Betrachtung eines Krankheitsbildes und der entsprechenden physiologischen und anatomischen Faktoren die Auslegung eines biomedizintechnischen Systems hergeleitet wird,“ sagt der Forscher, der sich selbst eine „Leidenschaft für die Lehre“ attestiert. Einen wesentlichen Fokus legt er dabei auf die Interaktion zwischen technischem und biologischem System. Darüber hinaus sollen die Studierenden auch von Cattaneos Erfahrung aus der Industrie profitieren. Hierzu gehören wirtschaftliche und praktische Aspekte des Gesundheitssystems oder auch rechtliche Kriterien im Zulassungsverfahren. „Technik und Forschung stehen in der Lehre sicherlich im Vordergrund, aber am Ende muss das Krankenhaus ein Medizinprodukt auch kaufen und die Krankenkasse es bezahlen.“

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