Im Dialog mit Jürgen Habermas

Workshop „The Future of Deliberative Democracy“ veranstaltet vom Institut für Sozialwissenschaften mit Unterstützung des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart.

In einem faszinierenden Workshop mit dem Philosophen Jürgen Habermas erörterten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler normative und empirische Fragen zu den Möglichkeiten und Grenzen von Deliberation in Demokratien des 21. Jahrhunderts. Deliberation bedeutet, einen vernünftigen Dialog zu führen, bei dem nicht Macht und Interessen, sondern bessere Argumente im Zentrum stehen. Weltweit führende Deliberationsforscher, wie Jane Mansbridge (Harvard University, ehemalige Präsidentin der American Political Science Association und diesjährige Trägerin des renommierten Johan Skytte-Prize), John Dryzek (University of Canberra) und Simone Chambers (University of California, Irvine) standen in direktem Austausch mit Jürgen Habermas, dem theoretischen Vordenker der Deliberationstheorie.

Der Workshop „The Future of Deliberative Democracy“ wurde von Prof. André Bächtiger (Universität Stuttgart, Institut für Sozial­wissenschaften) in Zu­sammen­arbeit mit dem Inter­nationalen Zen­trum für Kultur- und Technik­forschung (IZKT) organisiert und fand Anfang Juli statt. Die Veran­staltung stand im Zusammen­hang mit dem im September 2018 erscheinenden Oxford Handbook of Deliberative Democracy (Herausgeber André Bächtiger, John Drzyek, Jane Mansbridge und Mark Warren), das ein Interview mit Jürgen Habermas enthält.

Zwiegespräch zwischen Jürgen Habermas und Jane Mansbridge.
Zwiegespräch zwischen Jürgen Habermas und Jane Mansbridge.

Im Konsens gebildete verbindliche Normen

Im ersten Teil des Workshops ging es um konzeptionelle Fragen von Deliberation. Im intensiven Dialog mit Jürgen Habermas stellte sich heraus, dass eine minimale (und pluralistische) Definition von Deliberation, bei der gegenseitige Begründungen und Reflexion im Zentrum stehen, aus Sicht des Habermasschen Deliberationsmodell vielleicht zu „liberal“, das heißt zu stark auf das Individuum ausgelegt ist. Für Habermas unterschlägt eine solche minimale Definition die Wichtigkeit eines inklusiven und intersubjektiv geteilten argumentativen Prozesses, bei dem die Beteiligten gemeinsam konsensuale (übereinstimmende) und verbindliche Normen entwickeln. Ein solcher Prozess ist aus Sicht Habermas‘ für moderne Gesellschaften jedoch entscheidend, da diese über keinen gemeinsamen religiösen oder moralischen Bezugnahmen mehr verfügen: „Once only secular arguments can claim to "count", … democratic orders will not be stable unless the democratic procedure of political opinion and will formation has epistemic value, i.e. grounds the rationally motivated expectation of reasonable results by combining inclusion with deliberation as a reason giving practice.” Für Habermas ist inklusive und intersubjektiv geteilte Argumentation deshalb eine notwendige Bedingung, um Legitimität und soziale Integration herzustellen.

Wird Wahrheit gefunden oder sollte man sie als gegeben hinnehmen?

In einem zweiten Schritt ging es um epistemische Ziele von Deliberation, nämlich der Frage, ob durch einen deliberativen Prozess Wahrheit oder zumindest erkenntnismäßig bessere Ergebnisse erzielt wurden. In einer spannenden Debatte zwischen Hélène Landemore (Yale University) und Jürgen Habermas zeigte sich, dass es zwei Visionen epistemischer Deliberation gibt, nämlich einerseits ein prozeduralistisches und „ko-kreatives“ Modell (Habermas), bei dem bessere Antworten im deliberativen Prozess von den Teilnehmenden selbst erarbeitet werden. Dem steht andererseits ein von der Prozedur unabhängiges Modell (Landemore) gegenüber, bei dem Wahrheit extern gegeben ist und im deliberativen Prozess lediglich entdeckt werden muss.

Framing als Gegenspieler zu Deliberation?

Im letzten Teil des Workshops wurde ein alternatives Konzept politischer Kommunikation mit Deliberation in Zusammenhang gestellt: Framing. Framing bedeutet die selektive Betonung (und Ausblendung) bestimmter Aspekte der politischen Realität. Lange Zeit wurde Framing als Gegenspieler von Deliberation gesehen, da Framing von politischen Eliten manipulativ zur Durchsetzung eigener Ziele eingesetzt wird, während Deliberation einen authentischen kommunikativen Prozess „von unten“ beschreibt. Rune Slothuus (Universität Aarhus) zeigte auf, dass Framing sehr wohl normative Dimensionen beinhalten kann: So kann Framing durch Parteien oder politische Eliten helfen, dass Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht intensiv mit Politik beschäftigen, gleichwohl vernünftige politische Entscheide fällen können. Einigkeit bestand darin, dass es keine „neutrale“ Kommunikation oder Deliberation geben kann, sondern dass jede Kommunikation „geframed“ ist, das heißt stets bestimmte Elemente betonen und andere ausblenden muss. Der Workshop endete mit einem flammenden Plädoyer von Jürgen Habermas, die Macht des besseren Arguments als zentrales Kriterium für gelingende Demokratie im 21. Jahrhundert zu betrachten.

André Bächtiger

Prof. Dr.

Leiter der Abteilung für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung am Institut für Sozialwissenschaften

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